Ich frage mich…
Manchmal tut es einfach gut, sich zurückzuziehen und nachzudenken über sich, das Leben, die Menschen…
Letzte Woche ist mir ein Bücher-Schatz mal wieder in die Hände gekommen: Die Fragebögen von Max Frisch.
In diesem Buch finden wir Fragebögen zu allen Themen des Lebens. Für eine stille Stunde mit Dir allein, für einen Abend mit Freund*innen oder mal für eine lange Autofahrt.
Die jungen Leute sagen dazu “deep talk”…
Ich will seinen Fragenbogen zum Thema Freundschaft mit Euch teilen.
Fragebogen von Max Frisch zum Thema Freundschaft
Halten Sie sich für einen guten Freund?
Was empfinden Sie als Verrat:
wenn der andere es tut?
wenn Sie es tun?
Wie viele Freunde haben sie zur Zeit?
Halten Sie die Dauer einer Freundschaft (Unverbrüchlichkeit) für ein Wertmass der Freundschaft?
Was würden Sie einem Freund nicht verzeihen:
Doppelzüngigkeit?
dass er Ihnen eine Frau/einen Mann ausspannt?
dass er Ihrer sicher ist?
Ironie auch Ihnen gegenüber?
dass er keine Kritik verträgt?
dass er Personen, mit denen Sie sich verfeindet haben, durchaus schätzt und gerne mit ihnen verkehrt?
dass Sie keinen Einfluss auf ihn haben?
Möchten Sie ohne Freunde auskommen können?
Halten Sie sich einen Hund als Freund?
Ist es schon vorgekommen, dass Sie überhaupt gar keine Freundschaft hatten, oder setzen Sie dann Ihre diesbezüglichen Ansprüche einfach herab?
Kennen Sie Freundschaft mit Frauen/Männern:
vor Geschlechtsverkehr?
nach Geschlechtsverkehr?
ohne Geschlechtsverkehr?
Was fürchten Sie mehr: das Urteil von einem Freund oder das Urteil von Feinden?
Warum?
Gibt es Feinde, die Sie insgeheim zu Freunden machen möchten, um sie müheloser verehren zu können?
Wenn jemand in der Lage ist, Ihnen mit Geld zu helfen, oder wenn Sie in der Lage sind, jemand mit Geld zu helfen: sehen Sie darin eine Gefährdung der bisherigen Freundschaft?
Halten Sie die Natur für einen Freund?
Wenn Sie auf Umwegen erfahren, dass ein böser Witz über Sie ausgerechnet von einem Freund ausgegangen ist: kündigen Sie daraufhin die Freundschaft? Und wenn ja?
Wieviel Aufrichtigkeit von einem Freund ertragen Sie in Gesellschaft oder schriftlich oder unter vier Augen?
Gesetzt den Fall, Sie haben einen Freund, der Ihnen in intellektueller Hinsicht sehr überlegen ist: tröstet Sie seine Freundschaft darüber hinweg oder zweifeln Sie insgeheim an einer Freundschaft, die Sie sich allein durch Bewunderung, Treue, Hilfsbereitschaft usw. erwerben?
Worauf sind Sie aus dem natürlichen Bedürfnis nach Freundschaft öfter hereingefallen:
auf Schmeichelei?
auf Landsmannschaft in der Fremde?
auf die Einsicht, dass Sie sich eine Feindschaft in diesem Fall gar nicht leisten können, z.B. weil dadurch ihre berufliche Karriere gefährdet wäre?
auf Ihren eigenen Charme?
weil es Ihnen schmeichelt, wenn Sie jemand, der gerade Ansehen geniesst, öffentlich als Freund bezeichnen können (mit Vornamen)?
auf ideologisches Einverständnis?
Wie reden Sie über verlorene Freunde?
Wenn es dahin kommt, dass Freundschaft zu etwas verpflichtet, was eigentlich Ihrem Gewissen widerspricht, und Sie haben es um der Freundschaft willen getan: hat sich die betreffende Freundschaft dadurch erhalten?
Gibt es Freundschaft ohne Affinität im Humor?
Was halten Sie ferner für unerlässlich, damit Sie eine Beziehung zwischen zwei Personen nicht bloss als Interessen-Gemeinschaft, sondern als Freundschaft empfinden:
Wohlgefallen am andern Gesicht
dass man sich unter vier Augen einmal gehenlassen kann, d.h. das Vertrauen, dass nicht alles ausgeplaudert wird
politisches Einverständnis grosso modo
dass einer den andern in den Zustand der Hoffnung versetzen kann nur schon dadurch, dass er da ist, dass er anruft, dass er schreibt
Nachsicht
Mut zum offenen Widerspruch, aber mit Fühlern dafür, wieviel Aufrichtigkeit der andere gerade noch verkraften kann, und also Geduld
Ausfall von Prestige-Fragen
dass man dem andern ebenfalls Geheimnisse zubilligt, also nicht verletzt ist, wenn etwas auskommt, wovon er nie gesprochen hat
Verwandtschaft in der Scham
wenn man sich zufällig trifft: Freude, obschon man eigentlich gar keine Zeit hat, als erster Reflex beiderseits
dass man für den andern hoffen kann
die Gewähr, dass der eine wie der andere, wenn eine üble Nachrede über den andern im Umlauf ist, zumindest Belege verlangt, bevor er zustimmt
Treffpunkte in der Begeisterung
Erinnerungen, die man gemeinsam hat und die wertloser wären, wenn man sie nicht gemeinsam hätte
Dankbarkeit
dass der eine den andern gelegentlich im Unrecht sehen kann, aber deswegen nicht richterlich wird
Ausfall jeder Art von Geiz
dass man einander nicht festlegt auf Meinungen, die einmal zur Einigkeit führten, d. h. dass keiner von beiden sich ein neues Bewusstsein versagen muss aus Rücksicht? (Unzutreffendes streichen.)
Wie gross kann dabei der Altersunterschied sein?
Wenn eine langjährige Freundschaft sich verflüchtigt, z.B. weil die neue Gefährtin eines Freundes (oder ugekehrt) nicht zu integrieren ist: bedauern Sie dann, dass Freundschaft einmal bestanden hat?
Sind Sie sich selber ein Freund?
Aus: Max Frisch: Fragebogen
978-3-518-39452-6
Suhrkamp Verlag